Torsten Dederichs

Pyramids of Giza
Photo by Osama Elsayed on Unsplash, rendered by Torsten Dederichs

Viele von Ihnen messen Ihre Arbeitssicherheitsperformance anhand der bekannten Sicherheitspyramide.

Sie geht auf Herbert William Heinrich zurück, der in den 1920er herausfand, dass hinter jedem Unfall, der eine schwere oder sogar tödliche Verletzung hervorrief, ähnliche Unfälle mit leichten oder keinen Verletzungen vorausgingen. Er leitete daraus die These ab, dass man bereits bei den vermeintlich leichten Unfällen ansetzen müsse, um tödliche Unfälle zu verhindern. Ähnliche Zusammenhänge kennt man auch aus anderen Bereichen des Qualitätsmanagements, wo leichte Mängel sich oft zu schweren Qualitätsproblemen auswachsen können.

Die Sicherheitspyramide zeigt deutlich, warum man in der Arbeitssicherheit eine Null-Toleranz-Politik verfolgen muss.

Aber auch wenn man den Nutzen der Sicherheitspyramide nicht zu gering schätzen kann, es gibt noch eine andere Pyramide, die Sie aber erst noch bauen müssen. Sie ist sogar noch größer!

Der beste Lehrer, den ich hatte, war ein brillanter Geschichtenerzähler. Leider hatte ich nur einen Kurs bei ihm. Wenn er das Klassenzimmer betrat, stellte er das Thema des Tages vor und begann, es auf sehr lebendige Weise zu erklären. Und wann immer einer meiner Mitschüler eine Frage stellte, griff er diese auf und bezog sie in seinen Vortrag ein. Wir merkten bald, dass wir, solange er redete, nicht selber arbeiten brauchten. Also stellten wir Fragen, um ihn bloß am Reden zu halten. Überraschenderweise war er am Ende der Stunde immer in der Lage, all die angesprochenen Punkte zu verbinden und das Tagesthema erfolgreich abzuschließen. Im Nachhinein ist es erstaunlich, dass wir viel gelernt haben, ohne dass wir überhaupt bemerkt haben, dass wir lernen!

Das nur nebenbei: Im Kurs ging es um elektromagnetische Felder, also kein Thema, das typischerweise mit der Idee des Geschichtenerzählens verbunden ist. Statt über Volumenintegrale sprach er über Löffel, Blätter, Zwiebeln, Bälle usw. – alles Dinge, die wir aus dem täglichen Leben kennen. Auf diese Weise ermöglichte er es uns, ein intuitives Wissen über diese normalerweise harte Nuss für Studenten der Elektrotechnik zu entwickeln. Er hat das explizite Wissen, das in physikalischen Formeln festgehalten wird, auf ein greifbareres, implizites Wissen heruntergebrochen.

Und warum erzähle ich das? Weil Sie neben Ihrer Sicherheitspyramide eine zweite Pyramide bauen sollten: die Wissenspyramide.

Jedes Mal, wenn ein Sicherheitsproblem auftritt, wird eine Menge Wissen gewonnen. Nämlich die Antworten auf alle in der Unfalluntersuchung gestellten Fragen. Im Anschluss wird dieses neue Wissen in Richtlinien oder Schulungen weiterverarbeitet. Was sie damit schaffen, ist eine Unmenge an explizitem Wissen, die rohen Felsen als Grundbausteine Ihrer neuen Pyramide.

Aber mit dem Verfassen von Richtlinien ist es noch nicht getan. Sie müssen die neuen Erkenntnisse auch den Mitarbeitern vermitteln, und zwar so effektiv, dass es von ihnen aufgenommen wird. Im besten Fall wird es so inkorporiert, dass es stilles Wissen wird. Nämlich das Grundwissen in Ihrer Organisation darüber, wie man in diesem Fall Unfälle vermeidet. Das stille Wissen sind also die behauenen Bausteine ihrer Pyramide.

Und daher machen Sie es wie mein Lehrer! Fangen Sie an, Geschichten über das zu erzählen, was Sie Ihren Mitarbeitern vermitteln wollen. Erzählen Sie, was passiert ist, warum es passiert ist, mit welchen Folgen für den Einzelnen, geben Sie so dem Vorfall ein Gesicht und finden Sie einen Schurken! Der Kampf gegen Schurken ist es, was eine Geschichte spannend macht.

Verfassen Sie die Geschichte in einer lockeren Sprache, verwenden Sie sogar Metaphern, um das Wissen einprägsamer zu machen, und scheuen Sie sich nicht, es dramatisch zu gestalten. Sie wollen schließlich nicht nur einen weiteren Bericht schreiben, sondern Sie wollen Ihre Mitarbeiter berühren. Empathie ist der Unterschied zwischen Bericht und Geschichte. Wenn Ihre Zuhörer sich verbunden fühlen, werden die Erkenntnisse fast wie eine Selbsterfahrung verarbeitet. Auf diesem Wege wächst das Reservoir an stillem Wissen in Ihrem Unternehmen stetig!

Nicht auszudenken, wozu Ihre Mitarbeiter mit diesem Wissen alles in Lage sind zu tun! Denn dessen Anwendung geht über die reine Arbeitssicherheit hinaus. Vielleicht entwickeln sich neue, sichere Arbeitsweisen oder neue Werkzeuge. Stilles Wissen gilt als die wertvollste Wissensquelle und als diejenige, die am ehesten zu innovativen Durchbrüchen führen kann. Die Wissenschaft bringt die Nutzbarmachung von auf stillem Wissen direkt mit der Fähigkeit zur Innovation und nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit in Verbindung. Vielleicht ist Storytelling also auch ein Instrument für viele andere Bereiche Ihres Unternehmens. Was meinen Sie dazu?